Memoiren einer Tochter aus gutem Hause by Beauvoir Simone de

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause by Beauvoir Simone de

Autor:Beauvoir, Simone de [Beauvoir, Simone de]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-644-03121-0
veröffentlicht: 2014-01-04T17:00:00+00:00


Obwohl ich meine Literaturprüfung bestanden hatte, gedachte ich auf die Vorlesungen von Garric nicht zu verzichten: Ich saß also weiterhin jeden Samstagnachmittag ihm gegenüber. Mein Eifer ließ nicht nach: Es kam mir vor, als müsse die Erde für mich unbewohnbar sein, wofern ich nicht jemanden zum Bewundern hätte. Wenn ich einmal ohne Zaza und Thérèse von Neuilly zurückkam, ging ich zu Fuß nach Hause; ich ging die Avenue de la Grande Armée hinunter und amüsierte mich mit einem Spiel, das zu jener Zeit erst bedingt ein Risiko bedeutete, nämlich ganz geradeaus, ohne anzuhalten, die Place de l’Étoile zu überqueren; ich bewegte mich mit großen Schritten durch die Menge hindurch, die auf der Avenue des Champs-Élysées auf und nieder wogte. Ich dachte dabei an den Mann, der, verschieden von allen anderen, in einem unbekannten, beinahe exotischen Viertel in Belleville wohnte. Er war nicht ‹unruhig›, aber er schlief auch nicht: Er hatte seinen Weg gefunden; kein Heim, kein Handwerk, keine Routine wurde ihm hinderlich; in seinen Tagen gab es kein einziges Abweichen von seinem Ziel; er war allein, er war frei, von morgens bis abends handelte, leuchtete, glühte er. Wie gern hätte ich es ihm nachgetan! Ich versuchte in meinem Herzen den Geist der ‹Équipe› zu wecken, ich sah alle Vorübergehenden mit Augen der Liebe an. Wenn ich mit einem Buch im Luxembourggarten saß und jemand eine Unterhaltung mit mir begann, ging ich voll Eifer darauf ein. Früher war mir verboten, mit kleinen Mädchen zu spielen, die ich gar nicht kannte; jetzt machte es mir Vergnügen, die alten Tabus zu missachten. Ich war besonders erfreut, wenn ich es mit ‹Leuten aus dem Volke› zu tun hatte: Ich meinte dann, die Lehren Garrics in die Tat umzusetzen. Seine Existenz war das Licht meiner Tage.

Indessen wurden die Freuden, die ich daraus zog, bald durch Angst getrübt. Ich hörte ihn noch immer von Balzac und Victor Hugo reden: Tatsächlich musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich mir Mühe gab, eine tote Vergangenheit lebendig zu erhalten; ich war seine Hörerin, doch seine Schülerin war ich nicht mehr: Ich hatte aufgehört, sein Leben mitzuleben. ‹Und in ein paar Wochen sehe ich ihn nicht mehr!›, musste ich mir sagen. Schon hatte ich ihn verloren. Niemals aber hatte ich etwas verloren, was mir noch kostbar war: Wenn die Dinge mich verließen, hatte ich stets im Voraus aufgehört, auf sie Wert zu legen; diesmal glaubte ich, es werde mir Gewalt angetan, und ich lehnte mich dagegen auf. Nein, sagte ich mir, ich will nicht. Mein Wille galt also nichts. Wie aber sollte ich kämpfen? Ich teilte Garric mit, ich wolle den ‹Équipes› beitreten, er gratulierte mir dazu; tatsächlich beschäftigte er sich aber fast gar nicht mit der weiblichen Sektion. Zweifellos würde ich ihm also nächstes Jahr gar nicht mehr begegnen. Der Gedanke war mir so unerträglich, dass ich mich den verschiedensten Phantasien überließ; würde ich wohl den Mut haben, ihn zu sprechen, ihm zu schreiben, ihm zu sagen, dass ich nicht leben konnte, ohne ihn zu sehen? Und was würde geschehen, fragte ich mich, wenn ich es wirklich wagte? Ich wagte es nicht.



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